"King Lear", bei uns einfach kurz "LEAR" genannt. Die Kürze des Namens entspricht dabei unserer Verdichtung!
Es war ein weiter Weg dorthin. Er führte uns über verschiedene
Konzepte, verschiedene Regisseure und einige Konstanten wie musikalische
Leitung (Hans Petith) und Bühne/Kostüm (Katrin Hegedüsch).
"King Lear" ist Shakespeares längstes Stück. Und selbst in unserer extrem
komprimierten Fassung mit nur 6 SchauspielerInnen braucht der alte König
noch 2h:40min reine Spielzeit bis an sein Ende.
Die Reaktionen der Zuschauer lassen uns das glauben, und auch ich denke so. Es gab u.a. Bekundungen von ZuschauerInnen, sie hätten völlig die Zeit vergessen.Das Stück ist so reich an poetisch verdichteter Wahrheit, dass man
sich viele Sätze aufschreiben, abspeichern möchte. Aber man ist immer zu
langsam, denn es gibt so viele davon. Dafür werden sie bei uns erlebbar, lebendig!
Lear ist ein alter Patriarch, der einen klugen Schritt machen will: Er will seine Macht abgeben und den Rest seines Lebens einfach genießen.
Doch obwohl er lange darüber nachgedacht hat, klaffen Wunschdenken
und Realität weit auseinander. Gewohnt, mittels seiner Macht die Dinge so zu ordnen, wie er sie haben will, fällt es ihm schwer, die Realität
richtig einzuschätzen und anzunehmen. Er kämpft, scheitert, fällt, zerbricht und setzt sich mühsam neu zusammen. Eine Reise, die uns bestürzt, uns unsere eigene Zerbrechlichkeit vor Augen führt, und die doch auch Mut machen kann. Mut, dass es möglich ist, sich immer wieder neu zu erfinden, selbst im hohen Alter!
Mehr Lesen
Jeder von uns hat in dieser Inszenierung eine lange Reise hinter sich gebracht. Vielleicht weiter als sonst bei uns üblich.
Los ging es damit, dass es in Lear gar keinen Lear geben sollte. Das
war das ursprüngliche Konzept. Lear sollte eine Gruppenidentität werden, ein Konstrukt,
die Texte chorisch gesprochen, getanzt…wir hatten auch schon eine ganze
Woche mit einer tollen Choreographin vorgearbeitet. Doch der Regisseur,
der dieses Konzept erdacht hatte , wurde krank und somit war dies
hinfällig. Alles zurück auf null. Die Reise begann von neuem.
Übrig blieb von diesem Kurztrip blieb allerdings das klingende Bühnenbild und die damit verbundene musikalische Grundidee.
Seither sind alle Spielenden an andere
Ufer gereist, an fernen Gestaden gelandet und konnten dort bereits einige
Expeditionen und Erkundigungen unternehmen.
Kim Pfeiffer zu dem nonchalanten Edmund, der alle gängigen
Moralmuster bricht und doch schließlich die entbehrte Liebe findet. Vera
Kreyer, die als eisenharte Goneril in unserer Inszenierung stellvertretend auch
noch für ihre nicht vorhandene Schwester Reagan und ihrer beiden
Ehemänner agiert. Die an der Bevorzugung ihrer Schwester Cordelia
leidet und entsprechend lebenshungrig agiert. Johanna Spitzer als wunderbare Synthese aus Narr und Kent, dem
klugen loyalen Politiker, der weit in die Zukunft plant, und sich doch
auf den krummen Weg des Schicksals an der Seite Lears einlässt. Johannes Quisanga als
Gloucester, Lears Berater, der erst geblendet hellsichtig wird und
versteht…eine Rolle, die Johannes in diesem Alter vermutlich nur bei uns
spielen kann. Phillip Manuel Bodner macht die Reise von Lears behüteten
Patenkind zum halbverrückten Bettler und zurück, letztlich zum
zukünftigen König, und steht damit für die zyklische Konstanz der Geschichte. Und nicht zu vergessen Ron Engel, unsere neue Lichtgestalt, dessen erste eigene Produktion als Mann am Pult das war.
Für mich bestand die Aufgabe im ersten Teil in einer emotionalen
Reise von einem raschen und heftigen verletzten Irrtum zur größtmöglichen Wut, und als diese an ihre
natürliche Grenze kommt, im zweiten Teil zu einem beschleunigten
Verfall. Ein Vorausblick in die Zukunft meines Alters? Lear und ich haben etwas gemeinsam: wir haben ein immanentes Beharrungsvermögen . Könnte auch
meine Zukunft in solche Bahnen geraten? Ein shakespearsches
Preshadowing?
LEAR ist eine heutige Inszenierung: schauen wir uns nur die beiden greisen
Präsidentschaftskandidaten hinter dem Ozean an, schauen wir nach
Russland, oder wohin auch immer? Ob Lear dabei König, Präsident, CEO eines Unternehmens oder auch „nur“ der
Familienpatriarch ist: Das Thema ist - wie so oft bei Shakespeare -
universell: Wir kennen es alle und erleben es doch neu.
Unser neuer Reiseführer wurde Brian Bell, geborener Texaner, der
wegen der Krankheit der ursprünglich gesetzten Regie erst zwei Wochen
vor Probenbeginn als Regisseur zu uns stieß und sich als profunder
Shakespearekenner und Liebhaber des Meisters erwies. Der die Rezeption und die Umgangsweisen der englischsprachigen Theaterwelt mit dem Shakespearschen Erbe gut kennt, schätzt, und sie uns näherbrachte. Für mich war das sehr interessant und ich lernte nach 19 Jahren Shakespeare Company einiges Neues.
Brian Bell, der vor LEAR einen Heidenrespekt hatte, sich aber mindestens genauso darauf freute! Und der quasi ohne Vorbereitung in dieses hochkomplexe Stück sprang. Chapeau!
Völlig unverhofft fiel mir ebenso kurzfristig nun die Rolle des Lear zu, womit auch für mich ein Wunsch in Erfüllung ging. Und auch ich ging mit einer Gänsehaut des Respektes vor dieser Rolle an die Arbeit...denn: wie spielt man Wahnsinn?
„Als Lear ist man immer zu jung, bis man stirbt…und dann ist man zu
alt“
...so kolportierte uns Brian eine gängige Theatermeinung im englischen Sprachraum. Denn die Rolle braucht gleichzeitig Kraft und Gedankenschärfe im ersten Teil, wie wachsende Zerbrechlichkeit und auch Mut zur Lächerlichkeit im zweiten Teil.
Nebst Platz im Kopf, um sich Unmengen Text zu merken, was auch mit dem Fortschreiten der Lebenszeit nicht leichter wird. Also dachte ich mir: besser jetzt als später.
Der praktische Teil unserer Reise begann im Untergeschoss einer sehr
besonderen Kirche: Der evangelischen Kreuzkirche in Schmargendorf - ein ungewöhnlicher expressionistischer Bau. Wir fanden uns dort vis-à-vis von unserem riesigen, bereits fertig aufgebauten Bühnenbild wieder (Danke Robert Malohn für die Spende und den Aufbau!!!).
Doch ignorierten wir diese Verlockung zunächst, saßen 2 Wochen direkt davor am Tisch und lasen den Text…wieder und wieder, diskutierten, nährten uns an, entfernten uns wieder, kürzten, stellten um, verteilten die Textmassen neu…staunten über deren Schönheit und Dichte und die
Qualität der Übersetzung! (Danke Martin Molitor!!!), bei der man jeden zweiten Satz als verdichtete Wahrheit einrahmen möchte…
Am Ende hatten wir eine spielbare Fassung des Stücks für 6 SpielerInnen und immer noch viele viele Fragezeichen. Ich habe diese Phase wie eine Verpuppung empfunden, mit den Spielenden als Larven, die sich immer tiefer in sich zurückziehen, um zu finden, was sie werden wollen.
Dann endlich der Schritt auf die Bühne, die uns schon wochenlang
zugewunken hatte. Die Puppen schlüpften, kleideten sich neu in die Kostüme, die dort schon teilweise hingen (Danke Katrin und Clara). Es ist ein seltener Luxus, diese identitätsstiftenden Dinge schon in diesem Stadium zur Verfügung zu haben…
Brian nahm uns in dieser Phase an eine für uns ungewohnt kurze Leine, ging bereits sehr ins Detail. Zahlte sich hier die intensive Textarbeit aus? Dazu gibt es bei uns viele, z.T. divergierende Meinungen. Sicher aber ist: Wir hatten jetzt einen Fahrplan, den wir zuvor nicht hatten!
Und doch kann niemand einem Schauspieler die Findung seiner Figur abnehmen. Niemand die Quelle und Nahrung der Emotionen finden, die das
Stück, die die Rolle braucht. Und so kann auch niemand vorher wissen, welches fliegende Wesen sich da aus der Puppe schälen wird. Das ist ein manchmal schmerzhafter, von Fortschritten und Rückschlägen begleiteter Prozess. Schritt für Schritt fanden wir einen vorläufigen Rhythmus der Szenen, den
Herzschlag der Figuren, den Klang ihrer Sprache…ihre Sorgen und Freuden. Es wurde musiziert und geübt, geschrien und geflüstert, gesungen und
gestampft. Und es wurde viel gelacht. Aus unserem klingendes Bühnenbild schälte sich unter Hans Petiths Händen langsam, langsam ein Spielpartner heraus, der seufzte und
stöhnte, kicherte und sang. Humor fand sich an überraschenden Stellen…
So wurde aus dem Untergeschoss einer expressionistischen Kirche eine Kinderstube unser aller expressiver Kreativität. Behütet, geschützt,
noch immer abseits existenzieller Krisen.
Doch wie sagt es unser Gloucester: „Besitz wiegt uns in Sicherheit, nur der Mangel bringt uns weiter.“
Und so kam die zweiwöchige Endprobenphase. Hinaus in die Natur, in Hitze und
Kälte, Wind und Regen. Und da waren sie, die existenziellen Krisen.
Unsere Naturbühne zeigte uns unbarmherzig, was funktionierte und wo wir
uns getäuscht hatten. Es zeigte uns, dass wir immer noch viel zu lang
waren (ich meine die Gesamtspiellänge), und wo wir uns in falschen
Sicherheiten gewiegt hatten.
In den kalten Mainächten probten wir oft bis Mitternacht und saßen
dann mit Nebelmündern manchmal bis halb zwei Uhr morgens zur Kritik in
unserer Tribüne...Um früh weiter zu machen, bevor es auf der Bühne zu heiß wurde. Der Sturm - auch er ein Spielpartner in Lear - kam persönlich vorbei und schüttete uns die „Fluten des Himmels“ auf den
Kopf. Perücken und Masken wurden ausprobiert und wieder verworfen. Alle Effekte, alle Täuschungsmanöver wurden versagten, hatten keinen Bestand vor der Kraft dieses Textes,
wirkten wie unnötiger Tand. Sturminstrumente mussten sturmfest gemacht werden. Jeden Abend schrien
wir uns die Kehlen wund. Unsere Figuren wurden immer konturierter und gleichzeitig immer persönlicher.
In all dem schien eine mögliche Premiere immer noch weit weg. Brian Bell blieb ruhig, entspannt, motivierend und fröhlich, schenkte uns
immer wieder ein aufmunterndes „Hey, wir sind gut unterwegs, Leute“ …
…und dann war sie da plötzlich da…Premiere!
Und während wir auf der Bühne die Extreme auspackten: extreme Wut, extreme Schärfe, extreme Unmoral, extreme Loyalität, extreme
Selbstkasteiung und extreme Grausamkeit…wurde im Publikum erstaunlich viel gelacht...?
Was war das los? Das war kein hämisches, kein bösartiges Lachen?
Dann verstand ich es: Unsere Premierengäste GENOSSEN es, verstanden
es, waren berührt, überrascht. Sie segelten mit uns zum ersten Mal diesen Kurs, und jedes Manöver bescherte ihnen neue Aus.- und Einsichten. Und wie immer können diese selbst in der tiefsten Nacht bei Shakespeare auch komisch sein : Das
Shakespearsche Wunder eben.
10 Mal haben wir dieses Wunder jetzt erlebt. Weitere 11 Termine dürfen wir in dieser Sommerspielzeit noch auf die Suche danach gehen.
Unsere Schritte sind sicherer geworden, unsere Angst und Irritation
kleiner. Aber die emotionale Berührung, welche die Spielenden gemeinsam
mit dem Publikum durchleben, bleibt wunderbar.
Das Shakespearesche Wunder perpetuiert sich und holt uns jeden Abend ab, pünktlich wie der Bus. Und genauso wunderbar!
„DEIN LEBEN IST EIN WUNDER!“
Wundern Sie sich mit uns!